Ein Ritt auf dem Sensengrad und nordische Spezialitäten

Wandern im norwegischen Jotunheimen
Ein Ritt auf dem Sensengrad und nordische Spezialitäten
Nach einer Besseggentour verwöhnt das Fjellhotel Hindsæter mit traditioneller Küche

„Mutter, hast Du den
Gendingrat einmal gesehn?
Wohl ’ne Meile läuft er drang
Hin, in Sensenrückenbreite.
Unter Firneis, Schuttmoränen,
Schnee, Geröll, Sand, kunterbunter,
Sieht Dein Aug‘ auf jeder Seite
Stumme, schwarze Wasser gähnen,
An die fünf-, die siebenzehnhundert
Ellen rank hinunter.
Dort lang stoben pfeilgeschwind
Er und ich durch Wetter und Wind!“

Aus: Ibsen, Henrik: Peer Gynt. S. Fischer Verlag 1907.

Peer Gynt reitet auf einem Rentierbock den Gendingrat hinauf? Seiner Mutter Aase kommen bei der Schilderung unwillkürlich Zweifel. Peer ist ein Aufschneider und fürs Flunkern bekannt. „Doch“, so denkt die Alte, „Hauptsache, der Junge ist gesund wieder daheim.“

Über eine gesunde Heimkehr freuen sich auch Wanderer im 21. Jahrhundert, die den Besseggen bezwungen haben. Zumindest die nichtschwindelfreien Tourengänger werden tief durchatmen, wenn sich der Puls wieder beruhigt hat. Die Wanderung von Memurubu nach Gjendesheim gilt in Norwegen als Klassiker, den man einmal in seinem Leben gemacht haben sollte. Vermutlich diente der bizarre und steile Gebirgsrücken im östlichen Jotunheimen dem Lyriker und Dramatiker Ibsen als Vorlage für Peer Gynts Ritt auf dem Gendingrat.

Unterwegs

Die Tour hat es in sich. Tausend Höhenmeter sind zu überwinden.

30.000 Wanderer sind pro Jahr auf dem Besseggen unterwegs und machen ihn zu einer der meist gegangenen Gebirgstouren Norwegens. Rekordjäger nehmen am letzten Samstag im Juni am Besseggenlauf teil. Mehr als fünfzig Jahre hielt der Rekord von Reidar Andreassen. Am 28. Juni 2014 verbesserte Tomas Bereket die Bestmarke um sechzig Sekunden auf eine Stunde und fünfzehn Minuten. Wer die Tour gewandert ist, schüttelt mit dem Kopf. Unglaublich, wie machen die das?

Für die gut sechszehn Kilometer plant der Tourengeher etwa sieben Stunden Gehzeit inklusive Pausen. Ein früher Aufbruch ist ratsam. Die bevorzugte Route beginnt mit einer Schiffspartie über den Gjendesee. Das Motorschiff Kåre Johan bringt uns in zwanzig Minuten vom Anleger in Gjendesheim über den 150 Meter tiefen See nach Memurubu (1.008 Meter ü.M.). Die Hälfte des zwanzig Kilometer langen Sees haben wir damit durchquert. Unweit des Anlegers mündet der Fluss Muru, bringt mit Sand durchsetztes Gletscherwasser heran.

Gjende
Gjendesee

 

Beim Anstieg von Memurubu aus gewinnt der Wanderer schnell an Höhe. Nach einigem Auf und Ab stärkt am sogenannten „Schmalen Band“ auf etwa 1.400 Meter zur Halbzeit die Brotzeit aus dem Rucksack. Der klarste Binnensee Norwegens, der Bessvatnet, lässt sich von hier bis dreißig Meter unter seine Oberfläche schauen. Kräfte sammeln. Dann, nach Querung zweier Schneefelder, beginnt der Ritt auf dem Besseggen. Schwindelfreie vor!

Scharf bläst der Wind aus Westen, zerrt an Rucksack, Kräften und Nerven.

Die Finger umklammern zackigen Fels, die Füße suchen Halt auf einem Vorsprung. Nach vorn und nach oben schauen, nur nicht hinunter. Den nächsten Schritt setzen. Konzentration. Die Höhenmeter sind moderat, der Blick in die Tiefen dagegen atemberaubend. Links schillert blau das Wasser des Bessvatnet. Rechterhand und um 400 Meter tiefer gelegen, schimmert der grüne, von Gletscherwasser gespeiste Gjendesee. Dazwischen ragt das Felsgestein des Besseggen empor, stellt sich wie ein gezackter Drachenrücken uns Wanderern in den Weg.

Nach einer Dreiviertelstunde Erleichterung! Heitere Entspannung am Gipfel unterhalb der Steinpyramide des Veslefjell auf 1.743 Metern. Bunte Gebetsfähnchen wehen im nicht mehr so rauen Wind. Kein Baum, kein Strauch. Über die Steinebene hinweg schweift der Blick zu schneebedeckten Gipfeln. Wir sind im Land der Riesen, der höchsten Berge Norwegens. 1.140 Quadratkilometer Jotunheimens, etwa ein Drittel der Region, wurden zum Nationalpark erklärt. Noch scheint die Sonne, doch Wolken ziehen auf und der Abstieg über die Hochebene nach Gjendesheim dauert bestimmt zwei Stunden. Aber den Drachen haben wir ja schon besiegt. Zeit zum Aufbruch.

Gjende vom Wanderweg
Gjende vom Wanderweg

 

In nur fünfzehn Autominuten bringt uns der Minibus von Gjendesheim zurück zum Fjellhotel Hindsæter am Rande des Nationalparks. 1898 erkannte der Bergbauer Otto Østrem die Zeichen der Zeit und machte aus seiner Bergalm ein Fjellhotel. Mehr und mehr Fjellwanderer hatten in den Jahren zuvor an seine Tür geklopft und um eine Übernachtung auf der Alm
gebeten. Das Gästebuch aus dem Eröffnungsjahr ist noch erhalten. 355 Gäste nächtigten in Hindsæter.

Manche blieben eine Nacht, andere für mehrere Wochen. Seit 2004 führen André Sundero und Karola Wenzel das Haus. Eine norwegisch-deutsche Kombination, die mit Liebe zur Region, Sinn für Kulturgeschichte und einem famosen Händchen für die Küche die Philosophie von Hindsæter prägt. Wer hier Ferien macht, kann sich in die alte Zeit versetzen lassen.

Fjellhotell Hindsaetre
Fjellhotell Hindsaetre

Ungezähmt rauscht wie eh und je die Sjoa, bringt Wasser aus dem Gjendesee.

Mal tosend und mitreißend, mal zu stilleren Seen sich weitend, beherrscht der Fluss das Tal. Von der Hotelterrasse aus hat man ihn im Blick. Zehn Minuten dauert ein Abendspaziergang zu einem der Wasserfälle kurz unterhalb der Schafalm. Doch heute bleiben wir oben am Haus und warten auf den Gongschlag, der täglich um 19 Uhr das Abendessen einläutet. Draußen vor dem Haupthaus lodert im Feuerkorb ein Holzfeuer.

Die Türen zu zwei kleinen Blockhütten sind geöffnet und laden zum Vorspeisenbuffet ein. Mitten im Juni dominiert im Berghotel an diesem Wochenende der Wintersport. Spitzen des Skilanglaufs aus den Sechziger und Siebziger Jahren geben sich ein Stelldichein. Die Goldmedaillengewinner und Weltmeister plaudern bei bester Laune über Rekordzeiten und das richtige Wachs.

Im Backhaus wurde bereits am Morgen der Steinofen eingeheizt und am Nachmittag das Brot knusprig gebacken. Dazu gibt es eingelegte Pilze, Kürbis oder Rührei. In der Vorratshütte nebenan steht André und tranchiert Elchsalami mit einem großen scharfen Messer. Unter der Decke hängen ein halbes Dutzend Schinken in luftdurchlässigen Beuteln. Einer liegt im
Anschnitt auf dem Holzbrett zur Verkostung. Und dann die köstlichen Käse… .

In der „Alten Stube“ des Hauses erwartet uns der Hauptgang. Die Kiefernholz-Stube wirkt wie vor einhundertzwanzig Jahren. Fotografien an den Wänden erzählen aus der alten Zeit. Auf den massiven Holztischen farbenfrohe Arrangements aus Moos und Bergblumen, dazu ein kleines Rentiergeweih. Wie jeden Abend gibt es eine persönliche Bier- und Weinempfehlung. Über sechzig verschiedene Biersorten lagern im Kühlkeller, alle von kleinen norwegischen Brauereien gebraut. Karola stellt das regionale Klösch vor. „Da der Name Kölsch geschützt ist“, erzählt sie, „haben es die hiesigen Braumeister einfach Klösch
getauft.“ Der Geschmack kommt dem Original aus der Domstadt durchaus nahe.

Zum Hauptgang kommt eine Spezialität des Hauses auf den Tisch: Rentier. Eine halbwilde Rentierherde zieht während eines Jahres in einem großen Bogen über die Fjells und durch die Täler. Einige Tiere werden erlegt. Eine mobile Schlachterei sorgt vor Ort im Gelände dafür, dass die Tiere keinen Stress durch Transport oder Schlachthof bekommen. Sechzehn Tiere haben André und Karola in diesem Jahr gekauft. Heute gibt es Filet vom Ren und Hackbällchen, angerichtet mit Sellerie und Rentierflechte. Sanddorntörtchen mit bunten Beeren runden als Nachtisch das Menu ab. Im Jahr 2010 gab es auf Hindsæter einen Test nach den Kriterien von „Norwegian Foodprint“. Hindsæter steht seitdem auf einer Liste hervorragender norwegischer Restaurants, die lokale Spezialitäten anbieten. Andrés Großmutter, die in jungen Jahren gern hier auf der Alm geholfen hat und jede Ziege am Glockenklang erkennen konnte, wäre sicher stolz auf ihren Enkel.

In der Halle flackert und knistert Kaminfeuer.

Wir lassen den Tag ausklingen und nehmen in der Bibliothek am Panoramafenster Platz auf groben Hockern aus Kiefernholz. Ein Rentierfell wärmt die Sitzfläche. Der Blick ist einzigartig. Er schweift nach Süden und Westen über Sjodalen. Im gletschergeformten Tal stehen vereinzelt alte Sommeralmen. Und im Westen grüßt von 1.831 Metern die Russlirundhøe, dieser pyramidenförmige Gesteinsgipfel, der uns bereits einen phantastischen Rundblick über Jotunheimen bescherte. Mit Ferngläsern schauen wir über die Ebene. Wir warten auf den König der Wälder. Vielleicht lässt sich ja doch noch ein Elch sehen?

 

Frühstück
Frühstück

Morgens hält es niemanden lange in einem der sechsundzwanzig Zimmer. Einige Gäste sollen sogar schon von den Marmeladen aus Bringebæren, Jodbæren und Rhabarber geträumt haben.Himbeere und Erdbeere haben einen besonders intensiven Geschmack, da sie dank der langen Tage eine extra Portion Sonnenlicht bekommen. Das Frühstück bietet leckere norwegische Spezialitäten. Ein Stück vom Brunost darf nicht fehlen. Der norwegische Braunkäse schmeckt süßlich bis karamellig, am besten auf Knäckebrot. Traditionell wird er mit dem Käsehobel geschnitten.

Gestärkt zu neuen Taten. Die Rentiere lassen uns nicht los. Vorgestern haben wir zwei Böcke gesichtet. Neugierig lugten sie über eine Kuppe des Hindflyin-Fjell. Heute geht es ins Griningsdalen, mit seiner U-Form ein typisches Eiszeittal. Jahr für Jahr ist die Umgebung Schauplatz für den Zug der großen Rentierherde. Unser Pfad führt durch Wald und an klaren Seen entlang. Kiefern und Birken spiegeln sich auf der glatten Wasseroberfläche. Einzelne Blockhäuser warten auf die ersten Sommerferiengäste.

Eine große Kreuzotter sonnt sich am Wegesrand. Den Körper aufgestellt, lässt sie uns erhobenen Hauptes züngelnd passieren. Der Wald lichtet sich, im offenen Gelände wird die grandiose Weite und Einsamkeit dieser Landschaft einmal mehr deutlich. Technikferne Stille. Berührende Natur. Durchatmen und aufleben. Wenn hier die Rentier Weibchen im Frühjahr ihre Jungen geboren haben, streifen sie ihre Geweihe ab. Sie konzentrieren ihre Körperkraft auf die Aufzucht. Unsere Sammeljagd auf Rentiergeweihe kann beginnen. Zum Ritt auf einem Bock wird unser Abenteuer nicht eskalieren. Aber das gefundene Geweih bleibt eine originelle Erinnerung an eine intensive Wanderwoche.

 

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Hinweise:
Die beste Wanderzeit geht von Juni bis September.
Für Reservierungen im Hotel: https://www.hindseter.no/en/
Für Pauschalangebote mit Wanderreiseveranstalter: https://www.wikinger-reisen.de
Für Informationen über Jotunheimen: https://www.visitnorway.de

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© Torsten Wenk, Juni 2017